bremer hörkino

Radio-Geschichten live erleben

Rainer Kahrs

Fr, 27.02.2015

„Ich bin notorisch neugierig“

Im Gespräch mit Rainer Kahrs über investigativen Journalismus

Er ist bekannt für sein hartnäckiges Nachfragen, er hat brisante Storys über Waffengeschäfte für Hörfunk und Fernsehen recherchiert. Für seine Geschichten fährt er in die Ferne und er liebt Bremerhaven, wo sich das Große im Kleinen erzählen lässt. Der Bremer Journalist Rainer Kahrs erzählt von Macht und Ohnmacht und vom Unwägbaren im Reporterleben.

„Investigativ“ - das hört sich immer toll an. Was ist für Dich investigatives Feature?

Wenn man keine Ruhe geben will, wenn man nochmal nachguckt, sich nochmal in Frage stellt, hineinhört, stimmt das wirklich? Mit investigativ verbinde ich immer auch das Thema „politische Macht“, die Aufdeckung von Handlungen also, die zu Macht oder Ohnmacht führen.

Investigativ heißt ja auch eine lange Zeit dran zu bleiben.

Klar, das ist sehr viel Arbeit. Man hat den Stoff schon eine Zeit lang im Kopf und geht ihm nach. Gerade wenn es um ökonomische, politische Macht geht, darum etwas aufzudecken - da geht es ja darum, etwas aus dem Verborgenen zu holen. Das ist harte Arbeit, die langfristig bindet. Rüstungsgeschichten sind dabei besonders anstrengend, weil man so schwer rankommt. Beim Feature über den Bremer Reeder Nils Stolberg „Der Herr der Schiffe“ hatte ich Glück, weil ich plötzlich eine Email mit Hinweisen bekam. Aber um diese Email zu bekommen, war ein halbes Jahr Arbeit vorher nötig.

Konkret: Wie lange hast Du an dem Stück über das „Waffenschiff Faina“ gearbeitet?
Ein gutes Jahr. Da passierte die Entführung des Schiffes, ein Waffenschiff, ich hab das beobachtet und mir den Stoff richtig angeeignet. Habe Leute angerufen, bin langsam herumgepirscht um den Kern des Themas. Dann habe ich eine Entscheidung getroffen und das ist immer der schwierigste Punkt: „Okay ich setze es jetzt um, suche mir einen Sendeplatz“. Radio Bremen sagte zu und ab dann tickt die Uhr, dann wird es sehr anstrengend. Die Vorbereitung dauerte einen Monat, dann waren wir unterwegs in der Ukraine, es wurde eine Art „investigatives roadmovie“, die Produktion selbst dauerte zweieinhalb Monate.

Du warst in der Ukraine, damals noch Krim, und hast Waffengeschäfte recherchiert. Hast Du Dich als Autor in Gefahr begeben?

Das habe ich so nie empfunden, vielleicht war ich nicht dicht genug dran. Wir hatten allerdings irgendwann tatsächlich mit den Geheimdienst in der Ukraine zu tun, plötzlich rief uns jemand an, wir sollten ins Büro irgendeines Chefs nach Kiew kommen, weil der mitbekommen hatte, dass wir recherchieren. Es war einer der obersten SBU-Leute, der uns empfing. Das Ganze ist übrigens immer noch ein Staatsgeheimnis, dieser geheimnisvolle Hafen, die Waffenschiffe damals. Da merkt man schon: Okay es ist ernst. Aber wir haben uns damit nicht in Gefahr gebracht.

Vielleicht, wenn wir das Geheimnis weiter hätten lüften können, wenn wir die Hintermänner dahinter nicht nur auf ukrainischer sondern auch auf russischer Seite hätten benennen können. Wir haben ja nur einen Zipfel davon erwischt. Mehr nicht. Aber wir haben das Thema erzählt, das war der eigentliche Erfolg.

Anders bedroht gefühlt habe ich mich bei der Geschichte mit dem Reeder Stolberg, als rauskam, dass er mit dem Bundesnachrichtendienst BND zusammen gearbeitet hat und für ihn Waffenlieferungen gemacht hat nach Birma und in andere Länder. Da habe ich gemerkt, das ist ernst, der BND will das nicht. Es gab Anrufe… Trotzdem fühle ich mich als Journalist hier völlig sicher, und sowieso ist es ja legitim, was wir machen.

Das Geheimnis beim Waffenschiff Faina wurde nur etwas gelüftet. Wenn du es ganz aufgedeckt hättest, gäbe es einen Punkt, an dem Du sagst: „Ich gehe nicht weiter, das ist mir zu heiß.“ Oder: „Ich gehe weiter, egal, was passiert.“

(lacht) Ich bin eigentlich ein ängstlicher Typ. Insofern glaube ich, wenn die mir einmal die rote Karte zeigen würden, würde ich vielleicht sagen, dass ich mir ein anderes Thema suche. Allerdings bin ich auch notorisch neugierig. Beim Waffenschiff Faina war klar: Das würde ich wirklich gerne wissen! Dieses Netzwerk dahinter, die das Schiff haben fahren lassen mit den Waffen, das ist kein einzelner Reeder, das ist der Staat dahinter, der „tiefe Staat“, also BND, CIA, MI6. Ich weiß nicht was stärker wäre: meine Neugier oder meine Angst, denn in der Ukraine will ich nicht in einem Verließ landen…

Wie sicherst Du Dich ab - gibst Du mehreren Leuten Deine Telefonnummer?

Es ist wichtig, dass ich mich als Journalist legitimieren kann! Dafür bin ich diesem kleinen Radiosender Radio Bremen dankbar. Dafür, dass ich abgesichert bin und sagen kann: „Ich bin hier im Auftrag der ARD.“ Das ist eine Sicherheit, die jeder braucht, der investigativ arbeitet - eine Redaktion, die stark ist. Ich würde es aber nicht drauf ankommen lassen, ob der Sender mich rausholen kann – ich gehe nicht breitbeinig durch die Gegend und sage: „Ich habe den Sender im Rücken.“

Brauchst Du bei den investigativen Recherchen viel Frustrationstoleranz?

Ja klar. Ich erinnere mich sehr gut an den ökonomischen Absturz von Nils Stolberg und plötzlich kam soviel heraus. Es wurde richtig investigativ wegen dieser Waffenlieferungen. Ich hatte das Gefühl es ist zu groß, wir haben da doch nichts in der Hand. Da war ich neidisch auf den Staatsanwalt und habe zu dem mal etwas salopp gesagt: „Zeigen Sie doch mal die Akten.“ Da hat er gelacht. Der hatte da stapelweise Dokumente. Und ich dachte: Hätte ich davon doch nur eines, nur ein Papier. Zum Glück hatte ich woanders Einzelpapiere gefunden, nur wenige, aber die hatten es in sich. Aber bis man das hat, ist das ein Gefühlsbad, durch das man waten muss. Kriegt man die Geschichte am Ende wirklich hin? Da geht’s mir anders als vielleicht anderen. Ich fang ja nicht an mit einem Stapel Dokumente, die mir jemand zuspielt, sondern ich kriege was mit und habe das Gefühl, das ist wirklich eine Geschichte, die ich unbedingt erzählen will. Und dann geht’s los, Belege finden, Leute ansprechen, nichts hinbiegen, auch wenn man müde wird, dann lieber absagen.

Du arbeitest manchmal im Ausland, fühlst Du Dich dann einsam?

Bei TV-Recherchen nicht so, da sind wir ja ein Team. Zum Beispiel 2008 in der VR China, es ging um Doping und die Olympiade in Peking, da hatten wir Ärger. Aber wir konnten uns als Team immer über alles absprechen und waren auch abends zusammen.

Bei Hörfunk-Sachen bin ich allein und damit schon einsamer. Am schlimmsten war es 1994, da logierte ich in Taiwan in einem Hotel, nur Glasbausteine, keine natürliche Lichtquelle, eine Absteige. Ich hatte keinen Etat. Da fragte ich mich: „Wie komme ich hier eigentlich hin?

Ich hatte einen politischen Mord recherchiert in Taiwan, der mit deutschen Rüstungslieferungen zusammenhing; es wurde jemand ermordet, der vielleicht Schmiergelder angenommen hatte, und zwar der Beschaffungschef der taiwanischen Marine. Wenn man in Taiwan recherchiert und auf der Strasse kein Wort versteht, fühlt man sich natürlich einsam. Man muss dort Verbündete suchen. Das gelang mir. Das Land stand damals 1994 kurz vor dem Umsturz nach diesem Mord eines der ranghöchsten Militärs und die Presse ergriff die Chance und wurde richtig offensiv und recherchierte.

Zur Sache damals: Taiwan war ja reich, aber kein richtiger Staat. Die Volksrepublik China ächtete jeden, der mit Taiwan politisch anbändelte. Wenn Taiwan nun Waffen kaufen wollte, und das wollte das Militär, ging das also nur heimlich. Das war die Stunde der Waffenhändler, die heimlich lieferten und dafür besondere Provisionen bekamen, und die Beschaffungsleute im Militär in Taiwan, die so was einfädelten, bekamen auch was ab.

Hast Du was rausbekommen?

Ich habe eine Geschichte erzählt, die in Deutschland nicht bekannt war. Die Bremer Lürssen Werft wollte damals gerne Marineschiffe nach Taiwan liefern, aber eigentlich war Abeking & Rasmussen, damals eine reine Schiffswerft nahe bei Bremen, aber im Bundesland Niedersachsen, mit Taipei schon längst im Geschäft.

Eine heiße Sache. Wie kann man das nun bremisch einfädeln? Vielleicht über einen als Höflichkeitsbesuch getarnten politischen Besuch, in dem es heimlich auch um die von Taiwan gewünschten Lieferungen deutscher U-Boote gehen sollte? Folgendes ergab meine Recherche: Der damals gerade turnusmäßig amtierende Bundesratspräsidenten und Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier war zu Besuch beim taiwanischen Präsidenten und sprach das geheime U-Boot-Geschäft, von dem alle norddeutschen Küstenländer profitieren würden, an. Der taiwanische Präsident wollte das diskutieren, Taiwan wollte die U-Boote unbedingt um gegen China zu rüsten. Nach meinen Informationen fragte der Bremer Bürgermeister damals ganz nebenbei und sozusagen im Windschatten der U-Bootdiskussion nach, ob Taiwan nicht in Zukunft viel lieber Bremer Lürssen-Marineschiffe kaufen will als noch mal in Niedersachsen einzukaufen, bei Abeking&Rasmussen. Der Werftchef der Lürssenwerft war auch dabei.

Dann explodierte es. Diese Idee führte nämlich bei der Marineführung in Taiwan zu Aufruhr, weil die sich von Abeking & Rassmussen gut bedient fühlten. Die wollten nicht Lürssen. Der Beschaffungschef der Marine sollte nun diesen entstandenen heftigen Konflikt moderieren – und wurde erschossen, als er auf dem Weg zu einer Bremer Lobbyistin der Lürssen-Werft war, mitten in Taipei. Der Taiwaner hatte – das fand die taiwanische Staatsanwaltschaft heraus – Dokumente über internationale Waffenlieferungen nach Taiwan im Koffer dabei, und Unterlagen über Bankkonten, über die Schmiergeldgeschäfte abgewickelt worden sein sollen, besonders große Geschäfte mit französischen Lieferanten. Keiner wusste damals, warum der Ermordete den Koffer dabei hatte, als er erschossen wurde. Die Bremer Werftenlobbyistin wartete, dann erfuhr sie telefonisch vom Mord und floh sofort verängstigt aus Taiwan. Das hatte sie mir erzählt.

Kurz danach recherchierte undercover ein taiwanischer Staatsermittler hier in Bremen, ich traf ihn im Hotel, aber er war sehr zurückhaltend. Klaus Wedemeier wollte mit mir gar nicht reden, er lehnte das Gespräch ab.

Was wäre gewesen, wenn der Beschaffungschef der taiwanischen Marine den Koffer der Bremer Werftlobbyistin hätte geben können? Man weiß das nicht. Fakt ist: Wenige Minuten, bevor er sie eigentlich treffen wollte, wurde er erschossen, in einen Hubschrauber verfrachtet und dann ins Meer geworfen. Nur durch Zufall wurde sein Leichnam an Land gespült, danach steckte die Militärführung ein halbes Jahr den toten Körper in ein Kühlhaus und rückte die Leiche nicht heraus. Die Familie kämpfte lange darum, ihn bestatten zu können. Diese Geschichte habe ich in einem Hörfunk-Feature nachgezeichnet.

Du deckst etwas auf, das von einigen Leuten nicht gewollt ist. Es geht um viel Geld, Waffen, Ehre… Will man denjenigen auch beseitigen, der das aufdeckt?

Mich? (erstaunt)

Logisch.

Glaub ich nicht. In Taiwan am anderen Ende der Welt hatte das Thema eine große Öffentlichkeit, es gab eine Handvoll recherchierende Journalisten, einen mutigen Staatsanwalt, eine Diskussion, und ich habe das damals für den WDR öffentlich gemacht.

An einem Tag fühlte ich mich allerdings unwohl: In einer Zeitung, die nur aus chinesischen Zeichen bestand, sah ich mittendrin auf der Seite eins den Namen Kahrs. Ich wusste nicht, was da sonst noch stand, aber ich habe mich komisch gefühlt: Was wird hier eigentlich gespielt?

Hast Du Dir den Artikel übersetzen lassen?

Ja, meine Dolmetscherin machte das. Es wurde einfach nur erzählt, dass ein deutscher Reporter vom deutschen Hörfunk recherchiert.

Wird investigatives Arbeiten von Anstalten gewürdigt?

Ja nach außen schon. Es ist auch gewollt - beim WDR eindeutig, beim NDR und Radio Bremen auch. Investigativ wird manchmal aber auch verwechselt mit: ich telefoniere mal eben rum, ich recherchiere mal kurz. Ich mache zum Beispiel viele recherchierte Geschichten, die haben mit investigativ aber nichts zu tun.

Es mag ein heimlicher Wunsch von vielen Redakteuren sein, gute Geschichten zu haben. Die Frage ist, ob sie bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen, nicht nur monetär.

Das ARD-Feature wurde gegründet, mit dem Anspruch investigativen Journalismus zu fördern. Alle Anstalten tun sich zusammen und bezahlen den Autoren oder die Autorin des Features. Aber man hat mittlerweile gemerkt, dass es nicht so gut funktioniert, weil man die Geschichte ein halbes Jahr vorher erst vergibt. Da bleibt viel zu wenig Zeit, um genau zu recherchieren.

Es ist ja ein Renommierprojekt und das ist gut so. Das Dreifach-Honorar ist nicht so wesentlich, andere gute Geschichten werden ja auch wiederholt und verkaufen sich somit mehrfach. Die lange Vorlaufzeit ist wirklich manchmal schwierig. Ich hatte eine investigative Geschichte, die Situation der Seeleute in der Schifffahrtskrise. Das war unbedingt gewollt. Nach einem Monat habe ich rausgefunden: „Das wird nix.“ Das war schwierig, weil es nun schon eingeplant war. Pressetext und all das. Hatte ich jetzt versagt? Es gibt eben Geschichten, die sterben einfach, weil sie nicht funktionieren, weil die These nicht stimmt. Investigativ hat immer auch etwas Unwägbares.

Es gibt gar nicht so viele investigative Geschichten. Ich finde es sehr ambitioniert jeden Monat ein Thema rauszubringen, das eine investigative Recherche rechtfertigt. Beim ARD-Feature im Hörfunk sind die Sender zurückgerudert, finde ich. Das Wort investigativ ist kleiner geworden. Es wurde festgestellt, dass man es nicht immer einlösen kann. Und es ist auch ehrlicher, es nicht immer gleich investigativ zu nennen.

Wäre es besser, mehrere Autoren auf so ein Stück anzusetzen? Würde es Druck rausnehmen?

Ich funktioniere anders. Mir fällt ein Thema zu, ich recherchiere es vor, bin sehr allein bei der Entscheidung, mache ein Exposé, bekomme den Auftrag, den Sendetermin. Ich brauche den Druck des Abgabetermins. Wenn ich ein Stück mache, bin ich alleine, vom Anfang bis Ende. Der Druck ist eh da und ich komme damit zurecht.

Du sagst, Du suchst keine Themen. Wie finden sie Dich?

Ich lese was und sage, das nehme ich. Oder das Beispiel Taiwan: Ich habe von einer Frau eine Kassette bekommen, die hatte aus einer taiwanischen Zeitung was übersetzt und mir das auf die Kassette gesprochen.

Arbeitest Du während dessen mit der Redaktion, besprichst Du Dich?

Ich gebe Rückmeldungen, ich muss auch darüber erzählen, mich mitteilen. Es ist nicht so, dass ich nächste Schritte mit Redaktionen bespreche. Aber ich muss Druck ablassen, erzähle dem Redakteur den ganzen Kram, ob er will oder nicht. Aber machen und durchsetzen muss ich es, da bin ich echt alleine. Redakteure sind oft auch ängstlich: „Kriegt der das hin? Was tun wir, wenn das Stück abstürzt?“

Du machst viel über Rüstung. Und Du warst Kriegsdienstverweigerer. Was zieht Dich immer wieder zu diesem Thema hin?

Es sind zwei Themen - Waffen und Schiffe. Bei Waffen argwöhne ich, dass man dahinter die Architektur der Macht herausfinden kann. Bei Schiffen geht es ums Unterwegssein, sie haben was Fließendes, was Anrührendes. Schiffe und Waffen, diese Kombi habe ich viel gemacht. Wer Waffen hat, hat Macht, es gibt etwas, das aufgedeckt werden muss. Und dann wird es investigativ und dann macht es Spaß.

Was reizt Dich am Feature?

Das Erzählen. Zum Beispiel Transporteure von Waffen auf Schiffen, wie der mittlerweile insolvente Reeder Niels Stolberg. Solche Personen sind vielschichtig: Stolberg hatte monetäre Interessen, er wollte aber auch Teil des großen politischen Ganzen sein, denn als Schiffsreeder war Teil einer auch politisch abgedeckten Waffenlieferung, wie zum Beispiel nach Südsudan oder anderswo. Und wie legitimiert Stolberg, der immer als Pazifist nach außen auftrat, seine Schiffs-Waffenlieferungen? Das herauszufinden und auch als Menschengeschichte zu erzählen finde ich noch spannender, als einfach nur eine Waffenlieferung aufzudecken. Dass Waffen von A nach B illegal transportiert werden, das ist langweilig. Was sind die Geschichten dahinter?

Nehmen wir die Geschichte Stolberg. Es gibt eine Szene in Deinem Feature, da spürt man diesen Mann dahinter. Er steht auf dem Bremer Bahnhof, wo er Dir seinen desolaten Zustand erklärt, Dir sein Handy zeigt mit Fotos von ihm, völlig fertig, eine unfassbare Szene. Gibt es Grenzen, wo Du menschlich zu weit gehst? Macht Dir das Kopfzerbrechen, wie viel Du aus jemandem rausholst?

Ich habe eine institutionalisierte Distanz in mir zum anderen, wenn ich arbeite. Diese Grenze überschreite ich nicht. Ich hätte ihm immer zurufen mögen, „lassen Sie es, zeigen Sie es nicht“. Aber ich habe es nicht gesagt. Natürlich wollte ich die Fotos sehen. Stolberg hat versucht, mich auf seine Seite zu ziehen. Er wollte mir deshalb auch um Vertrauen zu schaffen unbedingt diese Seite zeigen. Ich bin innerlich ein Stück zurückgegangen und habe gesagt, okay, zeigen Sie mal. Ich habe ihn nicht dazu aufgefordert. Ich mag nicht eindringen, weil ich dann nicht mehr gut gucken kann! Ich muss nicht zu viel Beziehung aufbauen. Deswegen habe ich eine gesunde Distanz zu meinen Protagonisten.

Wolltest Du Stolberg nicht schützen, Verantwortung für ihn übernehmen, wenn er es selbst nicht hinkriegt?

Ja. Ich habe dann abgewogen. Erstens wollte er sich zeigen und zweitens war es ja wahr, dass er sich so gefühlt hat: Der Vorzeigereeder, der Multimultimillionär, der aufsteigende Stern am Bremer Reeder-Himmel, der morgens auf dem Bremer Bahnhof gestrandet ist und Fotos von sich mit dem Handy macht und dabei ins Handy spricht, wie es ihm geht.

Du machst auch viel Fernsehen und bist Reporter für Radio Bremens aktuelles Magazin „buten un binnen“. Das ist ja eine vollkommen andere Situation, mit einem Kamerateam unterwegs zu sein.

Rundfunk mag ich gerne, weil dort die Sprache dominiert und ich sprachlich mehr gestalten kann. Beim Fernsehen unterstützt die Sprache das Bild. Und mit dem Team ist es für mich oft ein Abenteuer, ich bin gern mit einem Team unterwegs.

Ich berichte viel aus Bremerhaven und bin froh, wenn ich vom Bremer Sender weg bin. Weg von den ganzen Aufgeregtheiten einer Redaktion. Ich bin froh, wenn ich draußen in Bremerhaven was beobachten kann, da bin ich frei.

Als TV-Reporter sagen wir: „So jetzt sind wir da, mit der ganzen Präsenz des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.“ Das hat auch was. Beispiel Flüchtlinge in Bremerhaven: Behörden und Politik hatten entschieden, wir sagen nichts. Ich hatte aber den Auftrag, was zu machen. Überall, wo ich angerufen habe, wollte niemand reden. Das ist ein großes Risiko für einen freien Reporter. Ich nehme ja ein teures Team, fahre los und bringe am Abend nichts mit!

Dennoch fährst Du mit dem Team los, nervst die solange bis die irgendwie rauskommen und plötzlich kommt ein Anruf und dann spricht der Sozialdezernent plötzlich doch. Weil er merkt, die meinen das ernst! Wir haben dann einen Dreh in einem Flüchtlingsheim bekommen. Man hangelt sich so lang, das ist total anstrengend, weil abends auch noch ein Beitrag dabei rauskommen muss. Das ist der Druck des Faktischen, das finde ich immer spannend. Die Protagonisten, die mir Interviews geben, wissen: Jetzt gilt es. Beim Hörfunk ist es intimer, sie erzählen es nur mir. Das birgt Gefahr und Chance zugleich.

Aber der Oberbürgermeister sagt vielleicht vor laufender Kamera auch mal etwas, was er sonst nicht sagen würde?

Da ist die Kunst des Reporters gefragt. Es ist ganz schlicht so: Wenn die merken, dass wir uns auf den Weg machen, weil wir etwas wissen und abends senden wollen – da verschaffen wir uns Respekt. Als ich in den USA gedreht habe wegen dem Reeder Stolberg, da war es auch so: Sie haben gemerkt, aha, da steckt eine Institution dahinter, ein Sender nimmt Geld in die Hand. Dann nehmen die das auch ernst. Es ist dieses Auftreten - auch im Regionalen. Das heißt, sich Respekt zu verschaffen, dass Du als öffentlich-rechtlicher Hörfunk- oder TV-Sender das Recht hast Dinge zu erfahren, zu erklären, einzuordnen. Sich diesen Respekt einzuklagen finde ich enorm wichtig.

Steckt darin nicht auch eine Gefahr? Die eigene Macht, die man spüren möchte?

Macht hat man ja nicht. Die Protagonisten sind ja nicht eingeschüchtert. Es geht darum als Reporter zu verkörpern, dass man wirklich was wissen will.

Das Feature ist eher langsam, fast zurückgezogen. Das Aktuelle muss heute Abend gesendet werden. Was magst Du lieber?

Ich bin da ganz unentschieden. Ich mache das Aktuelle gerne, weil es abends ein Produkt gibt, das ist ein schönes Gefühl. Da ist der Blutdruck zwar gestiegen, dann aber geht er auch wieder runter und Du bist abends fertig mit der Arbeit. Bei den langen Features bin ich zwischendrin verzweifelt oder hänge fest, das ist auch nicht gesund. Das Aktuelle wird oft als Format unterschätzt. Man kann sehr interessant aktuell berichten und Geschichten erzählen.

Gibt Bremerhaven denn viel her?

Bremerhaven gibt irre viel her. Ich erkläre mir die Welt von Bremerhaven aus. Dort hast Du die Geschichten in der ganzen Härte: Wohnungsnot trotz Leerstand, Überlebenskünstler auf den Werften mit ihren Schiffen, dreckige Arbeitsverhältnisse. Es ist alles da, um Geschichten zu erzählen. Die Stadt ist klein - in dem Kleinen sieht man wie es im Großen läuft. Wenn ein Amtsgerichtsfürst sich so geriert, wie er es gerade dort tut, würde er das in Bremen genauso tun wie in Berlin. Und es gibt vor allem Schiffe, die finde ich immer interessant.

Magst Du Bremerhaven?

Ja. Ich wollte dort immer mal mehrere Monate schreiben, wenn auch nicht ganz leben. Wenn ich aus Bremen nach Bremerhaven hochfahre, geht’s mir gut.

Über den Autor:

Rainer Kahrs wuchs im Umland von Bremen auf und wurde nach seiner Schulzeit evangelischer Diakon. Seit 1993 erstellt er Hörfunkfeatures, seit 1997 ist er zusätzlich als Fernsehreporter aktiv: als Redaktionsmitglied des TV-Regionalmagazins „buten un binnen“ von Radio Bremen. Seine Fernsehdokumentationen liefen bei ARD und Arte. 2008 erhielt er zusammen mit Marianne Strauch für sein Fernsehfeature für Radio Bremen „Schule der Toleranz – Kinderdemokratie in Tenever“ den Civis Medienpreis und den Medienpreis des Deutschen Roten Kreuzes. Sein Radiofeature „Das Geheimnis des Waffenschiffes Faina“ wurde mit dem Preis des bremer hörkinos ausgezeichnet und war nominiert für den Prix Europa.

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