bremer hörkino

Radio-Geschichten live erleben

Jury: Helmut Kopetzky, Eva Gliem, Tobias Nagorny

Sa, 09.02.2019

Sound ist unser Gemüse

Eindrücke eines Jury-Mitglieds bei der Auswahl des Bremer Feature-Debütpreises 2019

Wir danken den Jurymitgliedern Helmut Kopetzky, Feature-Autor, Eva Gliem, Publikumsgast des Bremer Hörkinos und Tobias Nagorny, Feature-Redakteur bei Radio Bremen.

Peter Leonhard Braun, der Prophet und weltweit agierende Missionar des Großen Radiofeatures drückte mir 1992 vor der Zollkontrolle des Kopenhagener Flughafens ein in Zellophan gewickeltes Paket in die Hand. „Glück gehabt“, sagte er, nachdem mich der Beamte durchgewunken hatte. Anderntags stand das brisante Paket im Fokus der 18. Internationalen Featurekonferenz und entpuppte sich als ein mit Erde gefüllter und mit Blumen und Gemüse (Rüben, Karotten, Radieschen, Kohlrabi, Spinat) bestückter Holzkasten. „Das“, sagte Braun, „ist ein perfektes Feature-Programm“.

2018 kurz vor Weihnachten brachte mir als Jurymitglied für den Bremer Hörkino-Featurepreis „Rüdi hört“ die Gelbe Post ein kiloschweres Paket. Es enthielt Grünzeug in Form von 17 CDs und die dazu gehörenden Sendemanuskripte - die ganze Vielfalt der Natur in P. L. Brauns Lesart: Von hochgezüchteten Zierpflanzen bis zum grundsoliden Ohren- und Gehirnfutter. Vor allem SOUND. Denn Feature ist HÖR-Funk.

Im Karton der Deutschen Post fand ich unter anderem:
Eine sachkundig recherchierte und allgemein-verständliche Arbeit über „Geld aus dem Nichts“ – von Banken je nach Bedarf „geschaffen“ und eigentlich nur eine Schuldverschreibung an ihre Kunden. Ich fand Nachtgespräche mit Folterüberlebenden aus syrischen Gefängnissen; eine muntere Debatte („Tschakka! Es läuft doch!“) über digitale Nomaden in der Arbeitswelt von morgen, die sich nicht mehr einem einzelnen Unternehmen verbunden fühlen, sondern ihre Karriere à la carte aus den vorteilhaftesten Angeboten rund um den Globus zusammenzimmern. Ferner die Biographien zwei ehemaliger Kindersoldaten aus Unganda – der eine wegen Massenmords vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt, der Zweite Angestellter eben dieser Behörde. Zitat: „Unter anderen Umständen würde vielleicht er auf der Anklagebank sitzen“.

Ein Autor war in den Mythos um U96 eingestiegen, dessen verwegene letzte Tauchfahrt als Vorlage für den Erfolgsfilm „Das Boot“ diente. Ein anderer beschrieb und demonstrierte in einem radikal persönlichen Feature seine Leidenschaft für den toten Sänger und Entertainer Prince. Wir lasen und hörten Radioproduktionen über den Markenhype – sprich Schleichwerbung – in der Rapp-Musik; über das Lachen als Explosion des Körpers, Lachyoga in Lachgruppen und die Aktivierung des prämotorischen Cortex; über todkranke Kinder in einer Palliativstation oder einen Club junger „Widerspruchsuchender“ im polnischen Untergrund der Sechziger Jahre.

Eine Nominierung handelte von dem mysteriösen Spuk sogenannter „Hüpfmännchen“ (Huppmänneln) in den ersten Jahren der DDR, die sich nachts auf Spiralfedern mit riesigen Sprüngen und aufgemalten Skeletten durch das Erzgebirgs-Vorland bewegt haben sollen, um – so eine Theorie – Neugierige von den Uranbergwerken der sowjetischen Bergbaugesellschaft „Wismut“ fernzuhalten. Und wir drei Hörmenschen genossen eine facettenreiche, klingende Radiostunde über das Revival der Vinyl-Schallplatte (Lobende Erwähnung).

Wahrhaft ein buntes Stück Radioland!
Manchmal dachte ich unter meinen Kopfhörern: Eigentlich sollten gelungene Featuresendungen den ganzen Braunschen Gartenzauber enthalten: Ernst und Leichtigkeit, Spannung, kontroverse Standpunkte, Dringlichkeit des Themas, akustische Qualität (das „Funkische“), inhaltliche und dramaturgische Entwicklung, Mitnahme der Zuhörer bis zur letzten Minute, persönlicher und möglichst unverwechselbarer Stil, erkennbare aber nicht in den Vordergrund drängende Autoren-„Haltung“. Features sollten schön und nützlich sein.

Die meisten dieser Qualitäten fand die Jury schließlich im Siegerstück „Lärm in der Tiefe - Wie Unterwasserkrach die Meere kaputt macht“ von Brigitte Kramer.
Die Autorin behandelt den Gegenstand auf korrespondierenden Ebenen: ökologisch, politisch, ökonomisch und auch mit einer leisen persönlichen Trauer angesichts der Verwüstungen im empfindlichen Ökosystem der Ozeane. Sie nimmt uns Hörer bei den Ohren und führt uns fachlich kompetent als souveräne Erzählerin durch ihr Thema, beunruhigt aber nie agitierend. „Ich hoffe, meine Leidenschaft ist zu hören“, schrieb sie im Begleitbrief zur Einreichung ihres ersten langen Radiofeatures.

Vor allem diese Leidenschaft – Co-Jurorin Eva sprach sogar von “Zärtlichkeit dem Thema” gegenüber – hat die Jury überzeugt.

Helmut Kopetzky

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