So, 14.04.2013
Laudationes für Hörkino-Preisträger
Mädchen im bosnischen Flüchtlingslager und überforderte Altenpfleger bei der Diakonie – es sind gewichtige Themen, denen Mechthild Müser und Jens Schellhass nachgegangen sind. Dass eine Laudatio trotzdem humorvoll geraten kann, bewiesen die Juroren am 3. April im Hörkino.
Feature-Preis Bremer Hörkino 2013
Laudatio Brigitte Kirilow, Redakteurin Deutschlandradio Kultur
„Ein bisschen mehr als Gotteslohn“ – Arbeitsbedingungen im kirchlichen Sektor
Autor: Jens Schellhass
Regie: der Autor
Redaktion: Thorsten Jantschek
Nordwestradio 2012
Der erste Auftrag, den Jens Schellhass vom Redakteur Thorsten Jantschek erhielt, lautete: „Machen Sie mal ein 25-Minuten-Stück über 50 Jahre Telefonseelsorge. Das ist eh keine so leichte Aufgabe und erst Recht nicht für jemanden, der viele Jahre als Außenhandelskaufmann und Betriebswirt sein Geld verdient und mit zwei Zeitungsvolontariaten 2004 und 2006, gerade erst sein zweites berufliches Leben als freier Journalist begonnen hatte. Doch Jens Schellhass schaffte es, nicht nur 50 Jahre in 25 Minuten abzubilden, sondern, so schrieb mir Thorsten Jantschek, er schaffte es auch, die Sendung „so stimmenreich und anrührend“ zu machen, dass sofort ein weiterer Auftrag folgte. Eine Kneipengeschichte, betitelt „Zwischen Korn und Caritas“, war das Ergebnis. Vier Jahre später, 2010, wurde sein Feature „Letzte Fahrt ins Spielzeugland“ in der Kategorie „Beste Reportage“ bereits mit dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet.
Ich kannte all diese Stücke nicht. Sie wurden von Radio Bremen produziert und auch von diesem Sender ausgestrahlt. Ich kannte Jens Schellhass nicht.
Also sprach ganz allein seine Arbeit zu mir, als ich als Jury-Mitglied des Journalisten-Preises Bremer Hörkino 2013 alle Einreichungen hörte. Einige stachen dabei heraus, eben auch
„Ein bisschen mehr als Gotteslohn“.
Was ließ mich aufmerken bei dieser Produktion?
Ich hörte: Jens Schellhass kann auf Menschen zugehen, ihnen zuhören, ihr Vertrauen gewinnen, sie aufschließen. Ich hörte: Sein Umgang mit der Technik, dem Mikrofon, dem Aufnahmegerät, ist gut (oder er hat einen guten Techniker im Studio). Interviewtechnik und Beherrschung der Audiotechnik sind zwei Standbeine für eine gute Radiosendung, denn was nützt das eine ohne das andere. Aber Feature-Autoren brauchen nicht nur zwei Beine, um laufen zu können. Deshalb auch auf der Positivseite: Jens Schellhass nimmt sich großer Themen an, ohne – und das war das Herausragende - sich in den Weiten seines Themas zu verlieren. Er versteht es, das Thema „Arbeitsrecht im kirchlichen Sektor unter Ausschluss des Streikrechts“ auf seinen existentiellen und individuellen Kern herunter zu brechen. Er fordert Antworten auf drängende Fragen, sucht Gründe für Entscheidungen und Verläufe.
„Ein bisschen mehr als Gotteslohn“ schildert szenisch und sachlich über den Sprecher die Arbeitsbedingungen im diakonischen Werk. O-Ton und Texte treiben dabei die Geschichte wechselseitig voran (sie interpretieren sich nicht gegenseitig, doppeln nicht Aussagen, wie es in manchen Sendungen geschieht, wohl in der Hoffnung, man kann das Wesentliche gar nicht oft genug sagen. Doch beim Hörer bewirkt dieser Effekt das Gegenteil.). Die eingebauten Szenen in der Sendung von Jens Schellhass schildern authentisch und stimmungsvoll die Zustände im Heim und machen so die Probleme deutlich, ohne dass sie ein Sprecher, sozusagen aus Zweiter Hand, vortragen müsste. Jens Schellhass gibt den Betreuern und Betreuten eine Stimme, fängt ihren Alltag ein, den so wenige von uns kennen. Das spröde Thema wird auf diese Weise anschaulich und persönlich. Die gut gewählte Musik schafft Ruhe- und Denkmomente. Das Feature, und eben auch das von Jens Schellhass, hat viele Ebenen. Es ermöglicht den Hörern einen intellektuellen, aber auch sinnlichen Zugang zum Thema. Jens Schellhass nutzt die Mittel, die das Genre Feature auszeichnen.
Was ich hörte, war also ein ziemlich perfektes Feature, das sich – Alfred Andersch -: „im weiten Feld zwischen Nachricht und Drama“ bewegt. Oder nehmen wir die Charakterisierung von Martin S. Svoboda, dem ersten Leiter der Hamburger Tagesschau: Feature ist „… eine Mischung, in der das Leben pocht und rauscht – Wort, Musik, die Stimme des Autors, Sprecherstimmen, Originalaufnahmen, Rückblenden…, Schreie, Philosophie, Weinen, Lachen, Zitate. Eine Art quer durch den Garten mit dem Pfeffer und Salz des Leben.“ Das Feature ist ein sehr persönlich formuliertes und dramaturgisch gestaltetes Radiostück.
Danke, Jens Schellhass, für dieses Feature, für die Aufklärung und Anteilnahme und dafür gibt es hier, jetzt, „Ein bisschen mehr als Gotteslohn“.
Sichtbar für die Ohren
“Welcome to the city of Jezevac – Mädchen in einem bosnischen Flüchtlingslager“
Laudatio von Annette Ruppelt auf Mechthild Müser
Warum das Radiofeature von Mechthild Müser “Welcome to the city of Jezevac” mich so stark beeindruckt hat ist, hängt damit zusammen, dass ich als Theaterfrau ein sehr visuell denkender Mensch bin. Die Welt erzählt und vermittelt sich mir in Bildern, sie machen mir die Welt im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich und begreifbar. Nicht umsonst führt die Veranstaltungsreihe “hörkino” das visuelle Element Kino im Titel: Als Kino im Kopf hinterlässt dieses Radiofeature einen starken und bleibenden Eindruck bei mir.
Mechthild Müsers Feature über Mädchen in einem bosnischen Flüchtlingslager ist ein eindringlicher “Hör-Film” über einen vergessenen Ort in einem Land nach einem Krieg, der für viele hierzulande schon vergessen ist, der aber in den Köpfen der vielen Traumatisierten und ihrer Familien noch lange nicht vergessen sein wird. Das Feature macht die Trostlosigkeit des Ortes anschaulich, die lieblos hingebauten Behausungen, die Industrielandschaft mit einer Abraumhalde, aus denen die Anwohner des Ortes noch mit der Hand die letzten brauchbaren Kohlestückchen klauben, die einzige Straße, die sich an der Halde entlang windet, und die zum nächsten Ort führt, in dem die Mädchen zur Schule gehen.
Schicke T-Shirts aus der Kleidersammlung und eine bisschen Make-up sind Highlights in ihrem Alltag. Sie träumen von einem Leben, das unbelastet ist von dem Krieg, den sie selbst nicht erlebt haben, dessen Traumata sie aber geerbt haben. Keine rosaroten Luftschlösser, sondern einfach Normalität: Beruf, Studium vielleicht, eine intakte Familie. Bloß nicht so leben müssen, wie die eigenen Eltern!
Mitarbeiter von Hilfsorganisationen versuchen mit verschiedenen Angeboten, ihnen eine Vorstellung von Normalität zu vermitteln. Leider zeigen die Aktionen oft nur, wie weit entfernt diese Normalität vom Leben der Mädchen in Jezevac ist. Daraus schlagen Menschenhändler Kapital, die in teuren ausländischen Wagen nach Jezevac kommen.
Mechthild Müser versteht es, auf meine Leinwand im Kopf große Kinobilder von Bedrohlichkeit zu projizieren. Ich kann förmlich spüren, wie die Männer in diesen Wagen die Lage checken, die Bedürftigkeit der Familien und die Sehnsüchte der Mädchen addieren, um sich dann als reiche Gönner mit Geld und Versprechen auf einen guten Job im Ausland bei ihnen einzuschmeicheln. Oder um im richtigen Moment auszunutzen, dass der Schulweg der Mädchen über die einzige unbeleuchtete Straße lang und einsam ist. Umstandslos verbinden sich diese Bilder mit jenen von versklavten Zwangsprostituierten, die ohne Pass und ohne Kontaktmöglichkeiten in Bordellen oder Schlimmerem verschwinden.
Mechthild Müsers Feature ist eine bildstarke Reise zu den Quellen eines kriminellen Phänomens, das sich auch in unserem Land und vor unserer Haustür wiederfindet und das davon lebt, dass die Nutznießer dieses Verbrechens sich eben kein Bild davon machen, welche Gedanken und Träume die Mädchen von Jezevac bewegen. Es gibt Bilder und Filme, die ich so schnell nicht vergesse; weil sie wahr sind und unverfälscht und lebendig. Mechthild Müsers Hör-Film gehört dazu. Sie hat mir mit ihrem Radiofeature ein Stück unserer Welt für die Ohren sichtbar gemacht.
Annette Ruppelt
Ein Preis statt Trost
Laudation von Thorsten Jantschek für „Asylsuchende in Deutschland“
Meine Damen und Herren, lieber Nasir Machmood und Panajotis Gavrilis. „Gekommen, um zu bleiben“ - dieses Feature bekommt keinen Trostpreis. Dieses Feature und seine Autoren brauchen keinen Trost, sie brauchen einen Preis. Erzählt wird die Geschichte des Asylbewerbers Shambu Lamas, der sich kurz vor seiner menschlich und moralisch zweifelhaften Abschiebung vor zwei Jahren das Leben genommen hat. Erzählt wird seine Geschichte vor allem durch die Briefe, die er an seinen kleinen Sohn geschrieben hat. Verwoben mit dieser Geschichte kommen wir seinem Sohn Nuri nahe, der in Deutschland geduldet wird.
Wir sind dabei, wenn er auf dem Weg zur Behörde ist, wenn er für seine Wut in der Rappmusik einen Ausdruck findet. Und vor allem folgen wir den beiden Reportern bei der Spurensuche nach den Ursachen des – so wird uns unmissverständlich nahegelegt – unhaltbaren Umgangs mit Asylbewerbern in Niedersachsen. Etwa bei einem Gespräch in einer Ausländerbehörde
Diese Autoren haben keinen Trost verdient, weil man Ihnen als Redakteur andauernd in die Parade fahren möchte. Weil sie den armen Mitarbeiter der Behörde regelrecht vorführen, weil sie kommentieren, was sie erleben und erfahren. Ja, zuweilen enteignen sie die O-Ton Geber emotional, weil sie sagen, wie die sich fühlen, obwohl man das hört.
Oft kann man nicht recht verstehen, was gesagt wird, und die O-Töne sind manchmal so gar nicht technisch state of the art. Die beiden Autoren haben es sogar geschafft, mich für einen Referatsleiter zu interessieren, der den Autoren „als abgebrühter erfahrener Asylfachmann“ erscheint. Und der – so meine Interpretation - ganz froh ist, dass das Recht nicht, wie Niklas Luhmann einmal gesagt hat, der Ebbe und Flut moralischer Einstellungen ausgeliefert ist.
Kein Trost dafür! Wirklich nicht! Aber dafür muss es einen Preis geben. Diese Autoren scheren sich nicht um politische Correctness in moralisch unkorrekten Verhältnissen, sie scheren sich nicht um Fairness, wenn sie unfaire Praktiken anklagen wollen. Und ihnen ist die technische Qualität egal, wenn es um den Inhalt geht, wenn es darum geht, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sie erzählen wollen. Sie wissen, wie man eine Soundumgebung nicht als pittoresken Budenzauber inszeniert, sondern konsequent in den Dienst der Geschichte stellt, sie schneiden schnell – oft zu schnell und sprechen zu schnell – aber das entfaltet dabei eine ruppige Eindringlichkeit, die mich fast eine Stunde lang gefesselt hat.
Welcher Sender – so hab ich mir beim Hören gedacht – welcher Sender hatte den Mut, diese Geschichte so zu produzieren und senden? Keiner, wie ich später leider merkte. Und deshalb – auch weil ich eine Vorliebe habe für Produktionen, die ich schnell und dreckig nenne – deshalb dachte ich mir, da muss irgend ein Preis drin sein, ein Preis ohne Trost. Beim Hören musste ich an ein Gespräch denken, das ich mal mit dem Bildhauer Olaf Metzel geführt habe, der an der Kunstakademie München unterrichtet und mir erzählt hat, wie in München zehn Jahre nach der Wende eine Bewerberin im blauen Hemd vor ihm saß und ihm als einzige Arbeitsprobe für die Bildhauerklasse ihr FDJ Buch vorlegte. Er habe sie natürlich genommen: Haltung sei es, was man brauche, alles andere komme von alleine bei der Arbeit.
Und diese Autoren haben eine Haltung, eindeutig. Deshalb, lieber Nasir Machmood und lieber Panajotis Gavrilis – bekommen Sie dieses hier: eine Carte Blanche. Sie bekommen die Möglichkeit, in meiner Sendung „Glauben und Wissen“ im Nordwestradio von Radio Bremen und dem NDR ein Feature zu produzieren, etwa 20 Minuten lang, ein Thema Ihrer Wahl, zum bei uns üblichen Autorenhonorar von gut 1.000 Euro. Sie haben die Haltung, Sie haben die Arbeit, und – Vorsicht - Sie haben einen Redakteur.